Thüringen

Thüringen.

Thüringen, das Land zwischen Werra und Saale, dem Südfuß des Harzes und dem des Thüringer Waldes, umfasste zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Hauptteil des Großherzogtums Sachsen-Weimar, das Herzogtum Sachsen-Gotha, die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen, einen Teil der Herzogtümer Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg, den [ehem.] preußischen Regierungsbezirk Erfurt fast ganz und vom Regierungsbezirk Merseburg den westlichen Teil. Unter dem Namen thüringische Staaten verstand man alle Länder zwischen den preußischen Provinzen Sachsen und Hessen-Nassau, Bayern und dem Königreich Sachsen, nämlich: das Großherzogtum Sachsen-Weimar, die Herzogtümer Sachsen-Meiningen, Sachsen-Koburg und -Gotha und Sachsen-Altenburg sowie die Fürstentümer Schwarzburg und Reuß, mit einem Gesamtflächeninhalt von 12.325 km² und (1905) 1.503.125 Einwohnern (darunter 1.455.949 Evangelische, 38.045 Katholiken und 4143 Juden).

Der Stamm der Thüringer, Nachkommen der Hermunduren, wird seit 450 n. Chr. genannt. Um 500 bestand ein großes Thüringerreich, das sich nördlich bis in den Harz, südlich bis zur Donau erstreckte und von Irminfrid, dem Schwiegersohn Theoderichs d. Gr., beherrscht wurde. Vom Frankenkönig Theuderich zweimal im Kampf besiegt (532), verlor Irminfrid Reich und Leben, während die Franken nicht nur über die Thüringer, sondern auch über die zwischen Mittelelbe und Harz sitzenden Angeln und Wariner die Oberhoheit errangen. Durch das Vordringen von Sachsen, Ansiedelung von Schwaben, Friesen und Franken wurde das Stammesgebiet der Thüringer verkleinert. Ihre Bekehrung zum Christentum gelang um 725 Bonifatius, der das erste Kloster im Lande zu Ohrdruf gründete. Unterdessen war Thüringen erneut unter fränkische Herrschaft geraten, und Pippin ließ die 10 Gaue durch Grafen verwalten. Karl der Große aber gründete um 804 gegen die Sorben die thüringische Mark, deren Vorsteher später Markherzoge (duces Sorabici limitis) genannt wurden.

Als das Karolingerreich verfiel, errangen nach 908 die Herzoge von Sachsen die Oberhoheit über Thüringen, unter den Ottonen die Markgrafen von Meißen, zu deren Verwaltungsbereich es bis 1067 gehörte. Kirchlich war Thüringen unmittelbar vom Erzbistum Mainz abhängig. Damals begann ein fränkisches Geschlecht, das unter Erzbischof Bardo (gest. 1051) nach Thüringen verpflanzt worden war und reichen Besitz erworben hatte, die alteinheimischen Grafengeschlechter, die sich nach ihren Burgen benannten, zu überragen. Ludwig der Bärtige, der Ahnherr des ludowingischen Landgrafenhauses, ist mehr eine Gestalt der Sage als der Geschichte. Die Machtstellung des Hauses begründete aber sein Sohn Ludwig der Springer (gest. 1123, s. d.), der wie seine Untertanen im Streit gegen Kaiser Heinrich IV. und Heinrich V. auf Seite der sächsischen Rebellen stand; unter diesem Einfluss kamen Hirsauer Mönche in die Klöster Reinhardsbrunn (1085 gegründet), Erfurt und Paulinzella.

König Lothar von Sachsen verlieh 1130 dem Sohn Ludwigs des Springers die Würde eines Landgrafen von Thüringen. Landgraf Ludwig I. (gest. 1140) erwarb durch Heirat reichen Besitz in Hessen, stand aber ebenso wie sein Sohn Ludwig II., der Eiserne (s. d.; 1140–1172), und sein Enkel Ludwig III., der Fromme (s. d.; 1172–90), auf Seite der Staufer. Die Erwerbung der Pfalzgrafschaft Sachsen nach dem Sturz Heinrichs des Löwen (1180) war der Lohn dafür. Ludwigs III. Bruder, Hermann I. (s. d.; gest. 1217), ward sie zuteil, und er folgte auch 1190 seinem kinderlos gestorbenen Bruder, wechselte aber in den Thronkämpfen wiederholt die Partei. Er war ein freigebiger Gönner der Minnesinger (Sage vom Sängerkrieg 1207) und begann den Bau des Landgrafenhauses auf der Wartburg, den sein Sohn Ludwig IV., der Heilige (s. d.; 1216-27), vollendete. Die neue Frömmigkeit verdrängte gleichzeitig den Minnesang, begünstigte kirchliche Stiftungen und förderte die Fürsorge für Arme und Kranke, wie sie Ludwigs Gemahlin, die heilige Elisabeth (s. d.), übte. Auf Ludwig IV. folgte sein ältester Bruder, Heinrich Raspe (s. d.; gest. 1247), denn Ludwigs einziger Sohn, Hermann II., war erst fünfjährig, er erbte 1238 Hessen und starb 1241 kinderlos.

Mit Heinrich Raspe war das ludowingische Landgrafenhaus im Mannesstamm erloschen, aber Kaiser Friedrich II. hatte schon 1243 dem Markgrafen Heinrich den Erlauchten (s. d.), als dem Sohne der ältesten Tochter Hermanns I., die Anwartschaft darauf erteilt. Wenn sich auch die Thüringer Grafen und Herren, selbst nach Landeshoheit strebend, dagegen wehrten, so blieb Heinrich doch im Thüringer Erbfolgekrieg Sieger. Heinrich das Kind von Brabant (s. d.), ein Enkel Ludwigs IV., wurde schließlich mit den hessischen Besitzungen abgefunden.

Indes das wettinische Fürstengeschlecht fasste in Thüringen schwer Fuß, da Heinrichs Sohn Albrecht 50 Jahre lang als unfähiger Tyrann herrschte. Als König Adolf von Nassau Meißen als heimgefallenes Lehen einzog und Thüringen von Albrecht kaufte, fand er bei den Herren im Land Unterstützung, konnte aber doch das neue Gebiet nicht behaupten. Sein Nachfolger, König Albrecht I. (s. d.), wurde 31. Mai 1307 bei Lucka entscheidend geschlagen, und nach seines und Diezmanns Tode war Friedrich I., der Freidige (s. d.), alleiniger Herr aller wettinischen Lande. König Heinrich VII. erkannte ihn 1310 als solchen an, und Friedrich war nun im Besitz unangefochten, wenn auch Kämpfe gegen äußere Feinde die Wiederaufrichtung der landesherrlichen Gewalt hinderten.

Friedrich II., der Ernsthafte (s. d.; 1323–49), machte den mächtigen Bund thüringischer Grafen, Herren und Städte (1334–35) unschädlich und siegte auch im sogen. Thüringer Grafenkrieg; insbes. die Grafen von Weimar-Orlamünde (s. Orlamünde) nahmen 1346 alles Eigengut auf Lebenszeit vom Landgrafen zu Lehen.

Der Besitz der Wettiner in Thüringen mehrte sich noch, als Friedrich III., der Strenge (s. d.; 1349 bis 1381), durch Heirat die Grafschaft Henneberg und sein jüngerer Bruder, Balthasar, die »Pflege Koburg« dem Hause zubrachten. Auch den Vögten von Plauen, Gera und Weida wurde 1354–58 Besitz abgenommen. Mit Erlaubnis des Kaisers Karl IV. schlossen die Wettiner 1373 eine Erbverbrüderung mit den Landgrafen von Hessen. Für die hohe Blüte Erfurts in dieser Zeit zeugt die Gründung einer Universität (1392). Bei der Teilung der wettinischen Lande unter die drei Söhne Friedrichs III. (1382) fiel Thüringen an Balthasar (gest. 1406), der ein tüchtiger Fürst war und die Erbverbrüderung mit Hessen 1392 erneuerte. Unter seinem unfähigen Sohn, Friedrich IV., dem Einfältigen (s. d), sank die thüringische Fürstenmacht. Nach seinem kinderlosen Ableben (1440) fiel Thüringen an die kurfürstlich sächsische Linie aus dem Geschlecht Friedrichs des Streitbaren, und zwar besaßen die Brüder, Kurfürst Friedrich II., der Sanftmütige (s. d.), und Herzog Wilhelm III., der Tapfere (s. d.), Thüringen zunächst gemeinsam, bis es letzterer bei der Teilung von 1445 allein bekam. Die Teilung führte 1446 zum Bruderkrieg, der erst 1451 endete.

Bei Wilhelms kinderlosem Tode (1482) fiel Thüringen an Friedrichs II. Söhne, Ernst und Albrecht, die am 26. Aug. 1485 zur endgültigen Länderteilung schritten. Seitdem verschmolz Thüringen mit den übrigen Ländern der Ernestinischen Linie, der thüringische Kreis aber, so hieß der der Albertinischen Linie zugefallene Teil Thüringens, mit Kursachsen.

Bibliographie

  • »Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae« (hrsg. von Dobenecker, Jena 1896–1904, Bd. 1–3; bis 1247)
  • »Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte« (Jena 1854 ff.)
  • »Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens« (bisher 33 Hefte, bearbeitet von Lehfeldt und Voß, Jena 1888–1907)
  • »Thüringen in Wort und Bild« (hrsg. von den thüringer Pestalozzivereinen, Leipz. 1900–02, 2 Bde.)
  • »Weihnachtsmärkte in Thüringen« (hrsg. v. IDL Softw., Darmst. seit 2003)
  • Bechstein: Thüringer Sagenbuch (Wien 1858)
  • Gebhardt: Thüringische Kirchengeschichte (Gotha 1880–81, 3 Bde.)
  • Habenicht und Böhmer: Politische Karte von Thüringen, 1:250.000 (Gotha 1903)
  • Hertel: Thüringer Sprachschatz (Weim. 1895, mit Sprachkarte)
  • Knochenhauer: Geschichte Thüringens in der karolingischen und sächsischen Zeit (Gotha 1863)
  • Knochenhauer: Geschichte Thüringens zur Zeit des ersten Landgrafenhauses (Gotha 1871)
  • Lehfeldt: Einführung in die Kunstgeschichte der thüringischen Staaten (Jena 1900)
  • Pelka: Studien zur Geschichte des Untergangs des alten Thüringischen Königreichs im Jahre 531 n. Chr. (Dissert., Königsb. 1903)
  • Posse: Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin (Leipz. 1897)
  • Regel: Thüringen, ein geographisches Handbuch (Jena 1892–96, 3 Tle.; »Grundriß« in 1 Bd., Weim. 1897)
  • Schlüter: Die Siedelungen im nordöstlichen Thüringen (Berl. 1903)
  • Scobel: Thüringen (Bd. 1 der Monographien »Land und Leute«, 2. Aufl., Bielef. 1902)

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909

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