Entern
Entern, ein feindliches Schiff auf der See mit Haken und Enterdreggen an sich ziehen, um dasselbe zu ersteigen und zu erobern. In älteren Zeiten, ehe die Kanonen im Gebrauch waren, war das Entern eine der gewöhnlichsten Unternehmungen; selbst in neueren Zeiten waren besonders die Franzosen darin den Engländern sehr überlegen. Daher sollen zuerst die Engländer das Einziehen der Schiffsseiten erfunden haben, und seit dieser Zeit wird der Sieg gewöhnlich durch das schwere Geschütz entschieden, so dass das Entern fast gar nicht mehr möglich ist, ausgenommen bei denjenigen Schiffe, die auf- und niederstehende Seiten haben. Kaper und Korsaren suchen, wegen ihrer Überlegenheit an Mannschaft, die Kauffahrer gewöhnlich gleich zu entern, weil ihnen dieses den Sieg eher verspricht, und es ihnen daran gelegen ist, das feindliche Schiff mit seiner Takelage und Ladung ganz in die Hände zu bekommen.
Das Entern ist immer ein kühnes und missliches Unternehmen, da das geenterte Schiff nicht allemal erobert wird; oft werden die Ersteiger mit Verlust zurückgetrieben, oder wohl gar gänzlich niedergehauen und gefangen, wenn die Enterdreggen und Haken des Feindes abzuhauen, und das Schiff mit Stangen wieder abzustoßen, gelungen ist. Ehe also ein Kapitain zu entern sucht, muss er die Stärke der feindlichen Mannschaft kennen, weil er sonst Gefahr läuft, selbst geentert zu werden.
Wenn das Entern geschehen soll, so nähert man sich dem feindlichen Schiff unter verdoppeltem Kanonenfeuer, und stellt einen Teil der entschlossensten Mannschaft zum Überspringen auf die erhabensten Stellen des Schiffs, nämlich auf die Back und Schanze. Ist man so nahe gekommen, dass die Kanonen nicht mehr gebraucht werden können, so macht man die Stückpforten nach und nach zu, damit der Feind keinen Eingang durch diese finde, oder Feuer hineinwerfe. Die Matrosen und Seesoldaten, welche zur Bedienung der Kanonen gebraucht wurden, kommen dann ebenfalls aufs oberste Deck, und unterhalten das Musketenfeuer, während man Granaten, Stink- und Dampfkugeln, unter die Feinde wirft, und aus dem leichten Geschütz der Back und Schanze, wie auch aus den Drehbassen der Marsen, auf sie feuert. Sobald das feindliche Schiff herangeholt, und das Signal zum Entern gegeben ist, springt die dazu bestimmte Mannschaft mit Pistolen, kurzen Säbeln und Enterbeilen hinein, und wird mit dem Feind handgemein. – Der Feind verteidigt sich mit Flinten, Piken und Hellebarden; Kauffahrer sind auch wohl mit einem Deck von Tauen, oder mit starken auf dem Deck stehenden Schotten, in welchen Schießlöcher befindlich sind, versehen; an die Seiten der Schiffe legt man mit Schrot und Pulver gefüllte Kisten, die man ansteckt, so wie der Feind entert.
Um ein Schiff zu entern, wird eine große Geschicklichkeit im Manövrieren erfordert, und es kann nach Umständen, und nach der Lage der Schiffe, an verschiedenen Stellen geschehen. Am vorteilhaftesten ist es aber, eine solche Stellung zu nehmen, dass das feindliche Schiff der Wirkung des Kanonenfeuers beständig ausgesetzt bleibt, und die seinigen nicht gebrauchen kann. Dieses erreicht man, wenn es gelingt, das Bugspriet des Feindes in der großen Wand seines Schiffes zu fangen. Bei hohler See ist es besser, an der Leeseite des Feindes zu entern, weil der Wellenschlag daselbst nich so heftig ist, als an der Luvseite; auch kann man sich daselbst, wenn man zurückgeschlagen wird, leichter entfernen. Bei sehr ungestümer See ist aber das Entern höchst gefährlich, weil beide Schiffe durch das heftige Aneinanderstoßen leicht Schaden leiden und sinken können. Das Manöver mit seinem Bugspriet in die Wand des Feindes zu fangen, ist nicht anzuraten, außer wenn das feindliche Schiff so schwach wäre, dass man seine Seiten dadurch einjagen, und es in den Grund segeln könnte.
Entern, an einem Schiff oder seiner Takelung emporklimmen; aufentern, zu einem Segelmanöver in die Takelung klettern. Man suchte früher das feindliche Schiff, wenn man ihm ganz nahegekommen, durch Enterdraggen (an Tauen ausgeworfene vierarmige kleine Anker), Enterhaken (Bootshaken, Stangen mit einem Eisenhaken am Ende) und im Altertum (so die Römer gegen die Karthager) durch Enterbrücken, d. h. vom Deck nach außen fallende Fallbrücken mit Haken am Ende, festzuhalten. Dann enterte die Mannschaft das feindliche Schiff, um den Feind mit blanker Waffe niederzukämpfen. Um das Entern zu erschweren, baute man die Schiffe oben mit einfallenden Bordwänden und verhinderte den Zugang zum Deck durch Ausspannen der Enternetze. Waffen beim Entern waren Enterbeile zum Kappen der feindlichen Taue und Ketten, Entermesser, Seitengewehr mit flacher Klinge und großem Korb, Enterpike als Stichwaffe. Enterer heißen die enternden Matrosen. Der Enterkampf ist seit Einführung der Schnellfeuergeschütze nur ausnahmsweise (z. B. als nächtlicher Überfall eines Kanonenboots mit bewaffneten Booten) denkbar.
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909