Scheinangriff

Scheinangriff, falscher Angriff, ist eins der Mittel (Kriegslisten) deren man sich bedient, den Feind zu falschen Maßregeln zu verleiten, ihm Blößen abzulocken; der Feind soll den Scheinangriff für einen wirklichen halten, seine Reserve zersplittern, oder von dem Punkt, den man eigentlich angreifen will, seitwärts ablenken. Hierzu gehört aber, dass man den Scheinangriff mit einer Art von Heftigkeit ausführe; denn mit einem unbedeutenden lauen Angriff wird man den Feind nicht im Zweifel erhalten können; oft wird man den Scheinangriff Stunden lang mit Mut unterhalten müssen, damit der Feind in die Falle geht, und seine Reserven nach diesem Punkt hin dirigiert. Die Hauptsache bleibt nun die richtige Berechnung der Zeit, welche notwendig zwischen dem Scheinangriff und dem wirklichen liegen muss. Ein ungeschickter Gegner wird diesen Zeitraum verkürzen, d. h. er wird nicht lange Anstand nehmen, seine Reserve nach dem bedrohten Punkte hin in Bewegung zu setzen. Je geschickter der Gegner, desto zäher wird er auch sein, desto länger wird er seine Reserven zurückhalten. Sind diese aber bereits in Bewegung gesetzt, so ist der Augenblick des wirklichen Angriffs nahe, wiewohl es auf der anderen Seite unweise wäre, zu früh loszubrechen. Angenommen, der Scheinangriff habe 1½ Stunden gedauert, die feindlichen Reserven stehen ¾ Stunden vom Angriffspunkt entfernt, so wird in den meisten Fällen der Angriff eine volle halbe Stunde gehalten werden müssen, damit man sicher überzeugt sein kann, dass sich diese Reserven in vollem Marsch dahin befinden. Dann ist es Zeit loszubrechen, und den wirklichen Angriff zu unternehmen. Ehe der Feind seinen Reserven die neue, durch unser Manöver veränderte Richtung zu geben im Stande ist, ehe diese Truppen den neuen Marsch vollenden können, wird man Zeit haben, den entscheidenden Schlag auszuführen. Oft wird der Feind sogar glauben, unser wirklicher Angriff sei nur eine Finte, als Folge der Bewegung seiner Reserven; dies wird ihn noch mehr in seiner früheren Meinung bestärken, und dadurch gewinnen wir abermals Zeit. Endlich verwandelt sich ein Scheinangriff nicht selten in einen wirklichen, wenn der Feind zu zähe wäre, und aus Besorgnis seine Reserven falsch zu verwenden, sie in Untätigkeit ließ. Der Scheinangriff setzt indessen immer eine gewisse Masse von Streitkräften voraus, welche dazu verwendet werden können, und ein gewisses Übergewicht an Truppen über den Feind, weil sonst dergleichen Manöver, gegen einen klugen und umsichtigen Feind, sehr leicht höchst verderblich ausfallen können. Vgl. Demonstration und Diversion.

Das Verhalten gegen einen Scheinangriff von Seiten des Feindes kann nur auf dem Schlachtfeld selbst vorgezeichnet werden; die Hauptschwierigkeit bleibt immer, die Finte von dem wahren Stoß zu unterscheiden; Glück, Zufall, Mut der Truppen führen oft gegen alle Wahrscheinlichkeit Erfolge herbei. Das erste aber, was ein Anführer gegen den feindlichen Scheinangriff zu tun hat, ist, dass er sich selbst unverzüglich auf den angegriffenen Punkt hin begebe, um sich mit eigenen Augen zu überzeuge, was daselbst vorgeht; dies bleibt immer besser, als alle auch die richtigsten und deutlichsten, Meldungen und Rapporte. Alsdann wird man etwas gegen den feindlichen Angriff unternehmen müssen. Da der Feind seinem Angriff allen Schein der Ernsthaftigkeit zu geben bemüht ist, nicht nur um unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu fesseln, sondern auch zugleich, um Zeit zu gewinnen, so wird man gerade das Gegenteil tun müssen, d. h. seine Aufmerksamkeit nicht bloß an einen Punkt fesseln, und auch ihn keine Zeit gewinnen lassen. Um diese Zeit abzukürzen, muss man dem Angriff mit der größten Heftigkeit begegnen; dadurch wird entweder der Feind genötigt, abzulassen, oder so viel Truppen rascher hinter einander zu verwenden, als er vielleicht erst in mehreren Stunden zu tun Willens war. Dabei sucht man, mit gehöriger Vorsicht, bis auf seine Hauptstellungen vorzudringen; auf diese Art wird die Absicht des Feindes am leichtesten enthüllt, was immer unser vorzüglicher Zweck sein muss. Ist dies einmal geschehen, so wird der Anführer auch im Stande sein, die nötigen Gegenmaßregeln zu ergreifen.

Gegen Festungen werden, wo möglich, neben dem wahren Angriff ebenfalls noch einige Scheinangriffe geführt, wodurch man sich wichtige Vorteile erzeugt, indem der Kraftaufwand des Belagerten dadurch geteilt, und folglich nicht in dem Maße vereinigt werden kann, als dies gegen einen einzigen Angriff geschehen könnte, besonders, wenn die Ausrüstung der Festung nicht auf mehrere gleichzeitige Angriffe berechnet wäre. Am zweckmäßigsten führt man zur Täuschung des Feindes die Scheinangriffe gegen solche Fronten, welche bei einer früheren Belagerung wirklich angegriffen wurden, und ordnet sie übrigens dergestalt an, dass man zu gleicher Zeit von hier aus diejenigen Werke, welche sich in der wahren Angriffsfront befinden, enfilieren, und im Rücken beschießen kann, wodurch zugleich der Angriff von dort her mehr unterstützt wird. Bei einer geringen Breite der Festung dürfen aber die Scheinangriffe dem wirklichen nicht gerade gegenüber liegen, weil man selbst durch das Artilleriefeuer die eigenen Angriffsarbeiten beunruhigen könnte. Sind dergleichen Angriffe nicht mit einander zu verbinden, so bekommt eine jede ihren besonderen Artilleriepark.

Quelle: Rumpf, H. F.: Allgemeine Real-Encyclopädie der gesammten Kriegskunst (Berl. 1827)

Glossar militärischer Begriffe