Die alten Germanen und Germanien

Karte »Germanien und die nördlichen Provinzen des Römischen Reiches«

Germanen und Germanien.

Der Name Germani wird zum erstenmal in den Fasti capitolini, d. h. dem in dem Tempel des kapitolinischen Jupiter aufbewahrten römischen Beamtenverzeichnis, zum J. 222 v. Chr. erwähnt; doch kann er eine spätere Einschaltung sein, da er erst durch Cäsar, der ihn in Gallien kennen lernte, den Römern geläufig geworden ist. Er stammt aus der keltischen Sprache und wird am wahrscheinlichsten als »Wäldler«, Bewohner eines Waldlandes, gedeutet: so nannten die Gallier wohl die im Maas- und Niederrheingebiet wohnenden kultur- und städtelosen Völker keltischer und germanischer Abstammung (nach Grimm und Mommsen bedeutet der Name Germani »Schreier«); schließlich wurde er auf die letzteren beschränkt und Gesamtbezeichnung der großen Nation jenseit des Rheins. Die germanischen Völker haben den Namen wohl selbst erst von den Galliern gehört und sich seiner nur im Verkehr mit Fremden, besonders mit Römern, bedient; volkstümlich ist er bei ihnen nie geworden. Später hat sich die gelehrte Sprache des gallischen Namens bemächtigt und gebraucht ihn in noch weiterem Sinn, als er früher hatte (s. Germanen, arischer Volksstamm). Vgl. Mahn, Über den Ursprung und die Bedeutung des Namens Germanen (Berl. 1864); Jäkel, Der Name Germanen (in der »Zeitschrift für deutsche Philologie«, Bd. 26, 1893).

Figuren

  • Germane, 1:20 Bullyland 56370
  • Germane, Varusschlacht, 1:32 Masterclass MCF-54029
  • Alte Germanen, 1:72 HäT Industrie 8068
  • Alte Germanen, 1:72 Caesar Miniatures H040
  • Alte Germanen, 1:72 Strelets M035
  • Germanische Krieger 4.–5. Jahrhundert, 1:72 MiniArt 72013
  • Germanische Reiter, 1:72 Strelets 098
  • Barbaren
  • Goten
  • Sachsen
  • Vandalen

Die erste Kunde von den Germanen kam den Völkern des Altertums durch die Reiseberichte des gelehrten Kaufmanns Pytheas von Massilia, der sie um 330 v. Chr. an den Küsten der Nord- und Ostsee kennen lernte (vgl. Matthias, Über Pytheas von Massilia und die ältesten Nachrichten von den Germanen, Berl. 1901). Von hier gingen auch die Stämme der Cimbern und Teutonen aus, mit denen die Germanen zuerst in die Geschichte eintraten, als sie 113–101 die Bevölkerung Italiens, Galliens und Spaniens in Schrecken setzten. Wahrscheinlich hatten sie später als die Griechen, Italiker und Kelten die Urheimat des arischen oder indogermanischen Stammes (vgl. Penka, Die Heimat der Germanen, Wien 1893) verlassen; nach langen, zeitlich nicht zu bestimmenden Wanderungen durch die Tiefebenen Sarmatiens, wo sich Slawen und Letten von ihnen loslösten, nahmen sie eben in jenen Küstenländern zuerst Wohnsitze ein und verbreiteten sich von hier aus allmählich weiter nach Süden und Westen. Ihr Land war bis zu Cäsars Zeit den Römern fast ganz unbekannt; und auch durch Cäsars kurze Feldzüge im Osten des Rheins und durch das, was er in Gallien darüber hörte, konnte keine genauere Kenntnis gewonnen werden. Erst durch die Kriege, die Drusus, Tiberius, Germanicus u. a., bis an die Weser und Elbe vordringend, in der Zeit kurz vor und nach Christi Geburt gegen die Germanen führten, erwarb man eine genauere Kenntnis des Landes.

Die Grenzen Germaniens, das die Römer Germania magna, auch Germania barbara und Germania transrhenana nannten, waren gegen Norden und Osten unbestimmt. Als die östlichen Grenznachbarn werden die jenseit der Weichsel wohnenden Sarmaten genannt; im Norden bildete die Grenze der Ozean, worin man sich das jetzige Dänemark, Schweden und Norwegen als Inseln dachte, die man ebenfalls zu Germania magna in weitester Bedeutung rechnete. Im Westen trennte es der Rhein von Gallien; im Süden grenzte es an die römischen Provinzen Vindelizien, Noricum und Pannonien. In früherer Zeit bildete die Südgrenze des germanischen Gebiets der Herzynische Wald (Hercynia silva), der zusammenhängende Gebirgszug, der vom Schwarzwald an durch Franken, über das Erz- und Riesengebirge sich fortsetzend, bis zu den Karpathen reicht. Aus den unter dem Namen Hercynia silva zusammengefassten deutschen Mittelgebirgen tauchen noch eine Reihe von Namen auf, die sich bestimmen lassen: so das Gabretagebirge (Böhmerwald), die Sudeten (Erzgebirge), der Mons Abnoba oder Silva Marciana (Schwarzwald), der Jura, dessen Name schon bei Cäsar und Ptolemäos auftritt, Alpii Montes (Rauhe Alp), der Taunus, die Silva Bacenis (zwischen Weser und Saale, nördlich von Werra und Unstrut), der Vosagus (fälschlich Vogesus, d. h. Wasgau, Vogesen), Semana (Thüringer Wald), Melibocus (Harz), Asciburgium (Riesengebirge), Teutoburger Wald (Osning) u. a.; der Name Buchonia silva für Rhön und Vogelsgebirge lässt sich im Altertum nicht nachweisen.

Von den Flüssen Germaniens kannten die Römer besonders den Danubius (Donau), der die Grenze zwischen ihnen und den Germanen bildete, den Rhenus (Rhein) mit dem Mündungsarm Vahalis (Waal) und den Nebenflüssen Nicer (Neckar), Moenus (Main), Laugona (Lahn), Luppia (Lippe) u. a.; ferner den Vidrus (Vecht), die Amisia (Ems), die Visurgis (Weser), die Albis (Elbe), den Viadrus (Oder), die Vistula (Weichsel), den Guttalus (Pregel), letzteren freilich nur durch Hörensagen. Unter den Seen war den Römern als der bedeutendste der Lacus Brigantinus oder Venetus (Bodensee) bekannt. Vgl. Knüll, Historische Geographie Deutschlands im Mittelalter (Bresl. 1903); Kretschmer, Historische Geographie von Mitteleuropa (Münch. 1904).

Die Berichte der Römer über das Klima und die Bodenbeschaffenheit Germaniens lauten ungünstig: es sei ein rauhes Land, voll von Sümpfen und dichten Wäldern, über denen sich ein düsterer Himmel und eine nebelvolle, regenreiche Luft ausbreiteten; dem kurzen Sommer folge ein langer Winter mit furchtbaren Stürmen, und die Ströme bedeckten sich auf lange Zeit mit Eis. Allerdings nahmen gewaltige Buchen- und Eichenwälder damals einen großen Teil des Landes ein (vgl. Schwappach, Handbuch der Forst- und Jagdgeschichte Deutschlands, Berl. 1885–88); im Norden gab es auch Nadelholz. Die ungeheuren Eichenstämme bewunderte der ältere Plinius, der selbst im nördlichen Westfalen, im Lande der Chauken, gewesen war. Obstbäume aber, wenigstens edlere, gediehen nach Tacitus nicht. An Getreide gab es Gerste, Hafer und Hirse; Weizen wurde durch die Römer eingeführt; dazu wurden Flachs und einiges Gemüse (Rüben, Rettiche, Spargel, Bohnen) gebaut. Die zahlreichen Viehherden bestanden aus Rindvieh, das klein und unansehnlich, aber dauerhaft war, Schafen, Ziegen und besonders Schweinen. Die einheimischen Pferde waren unansehnlich und nicht besonders schnell, aber genügsam und ausdauernd. Viel Wild bot der Jagdlust der Germanen unerschöpfliche Nahrung. Außer dem den Römern besonders merkwürdigen Elen oder Elch (Alces) und dem Auerochsen (Urus) gab es Bären, Wölfe, Luchse, wilde Katzen, Wildschweine, Hirsche, Rehe u. a. in Menge. Auch werden die Gewässer als fischreich gerühmt. An Mineralien gewann man den Bernstein, Salz und auch etwas Silber und Eisen. Vgl. Seeck, Die älteste Kultur der Deutschen (in den »Preußischen Jahrbüchern«, Bd. 76, 1894).

Als ein besonderer Teil von Germania magna ist das sogen. Zehntland, Agri decumates (s. d.), anzusehen, der südwestliche Winkel Germaniens zwischen dem Mittelrhein und der oberen Donau, der von den Römern allmählich erobert und durch einen vom Rhein bei Koblenz durch Franken und Schwaben bis nach Regensburg sich 500 km weit hinziehenden Grenzwall (siehe Limes) geschützt wurde; er diente als Vorwacht gegen Einfälle in das römische Reich, bis unter der Herrschaft des Honorius zu Anfang des 5. Jahrhunderts die Alemannen auf allen Punkten die Befestigungslinie durchbrachen, das ganze Zehntland überschwemmten und den Römern entrissen. Von der Tätigkeit der Römer in diesen Gegenden zeugen zahlreiche Altertümer, Kastelle, Straßen; von Städten verdienen eine Erwähnung: Aquae oder Aurelia Aquensis (Baden-Baden), Arae Flaviae (Rottweil), Sumelocenna (Rottenburg), Clarenna (Kannstatt), Porta Hercynia (Pforzheim), Aquae Mattiacae (Wiesbaden).

Wohl zu unterscheiden von Germania magna ist Germania cisrhenana oder die römische Provinz Germania, die auf der westlichen Seite des Rheins Gegenden umfasste, die von germanischen Stämmen (Germani cisrhenani: Paemanen, Eburonen, Caerosern und Condruser) jenseit des Rheins besetzt worden waren. Anfangs rechnete man diese Landstriche zu Gallia belgica; allein unter Augustus nannte man sie nach ihren Bewohnern Germania und teilte sie in zwei Teile: Germania superior oder Germania prima, vom Juragebirge bis zur Nahe, und Germania inferior oder Germania secunda, von der Nahe bis zum Meer. Auch in diesen Gegenden wurden von den Römern feste Plätze und Standlager errichtet; stets hatten hier mehr Legionen als irgendwo sonst ihre Standquartiere, bereit, die Angriffe der kriegslustigen und gefürchteten Grenznachbarn zurückzuschlagen.

Völkerschaften der Germanen

Die Völkerschaften der Germanen scheidet Tacitus in drei große Gruppen: die Ingävonen (Ingwäonen) am Meer, die Herminonen in der Mitte des Landes und die Istävonen (Istwäonen), zu denen alle übrigen gehören würden; Plinius führt noch einen vierten (Vandalen) und einen fünften Stamm (Peukiner und Bastarner) hinzu. Die Dreiteilung des Tacitus beruht wohl nur auf Sagen und Liedern, die dem Stammvater der Germanen, Mannus, drei Söhne gaben, von denen die Gruppen abstammen sollten. Begründeter ist eine von Cäsar und Tacitus gemachte Scheidung, die den nichtsuevischen westlichen Völkerschaften die Sueben im Nordosten der Elbe gegenüberstellt, welche die große nordöstliche Ebene bewohnten, weniger von Ackerbau als von Jagd und Viehzucht lebten und zu Wanderungen geneigt waren. Vgl. Stein, Die Völkerstämme der Germanen nach römischer Darstellung (Schweinf. 1896).

Bis zum Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. waren die Wohnsitze der germanischen Völkerschaften (vgl. v. Erckert, Wanderungen und Siedelungen der germanischen Stämme in Mitteleuropa, Berl. 1901) etwa folgendermaßen verteilt: am linken Rheinufer, also in der römischen Provinz Germania superior, saßen die drei Stämme der Triboker im Elsass mit der Stadt Argentoratum (Straßburg), der Nemeter mit Noviomagus (Speyer) und der Vangionen mit Borbetomagus (Worms) und Mogontiacum (Mainz). Weiter nördlich im niederen Germanien, noch mitten unter keltischen Stämmen wohnten die Ubier, deren Mittelpunkt Köln (Colonia Ubiorum oder Colonia Agrippinensis) war; auch Bingen, Koblenz, Remagen und andere Kastelle waren hier von Drusus gegründet; näher der Mündung des Stromes, auf der vom Rhein gebildeten Insel die ihrer Tapferkeit wegen gepriesenen Bataver (daher der Landschaftsname Betuwe) und im Innern um Tongern die Tungrer. An der Küste der Nordsee hin folgen die Friesen vom Rhein bis zur Ems und die Chauken von der Ems über die Weser hinaus bis zur Elbe. Im Süden schloss sich hier eine Reihe von Stämmen an, die später zu dem fränkischen Volk verschmolzen, die Chamaven (mittelalterlicher Gau Hamaland um Deventer) und die Chattuarier (zwischen Ruhr und Lippe); ferner die Amsivarier, ursprünglich an der Ems, aber von hier durch die Chauken verdrängt; die Sigamb(r)er, auf beiden Seiten der Ruhr von der Lippe bis zur Sieg, durch Tiberius besiegt und zum Teil auf römischem Boden angesiedelt; endlich die Brukterer in dem Winkel zwischen Ems und Lippe. Mehr im Innern sind die Hauptstämme die Chatten, im jetzigen Hessen und bis nahe an den Rhein, die Angrivarier an der mittleren Weser, die Cherusker zwischen Harz und Thüringer Wald und die Hermunduren zwischen Main und Donau. Von den suevischen Stämmen sind zu nennen: die Semnonen an Havel und Spree, die Reudigner, Avionen, Eudosen, Suardonen, Nuithonen und andere wenig bekannten Völkerschaften im Osten bis zur Meeresküste hin. Tacitus rechnet auch die Langobarden, die wohl schon zu seiner Zeit im Lüneburgischen saßen, sowie die Angeln und Wariner in Holstein und Mecklenburg zu den Sueben; ebenfalls zu ihnen gehören wohl die Markomannen in Böhmen und die Quaden östlich von diesen an der Donau. Weiter ostwärts noch saß das mächtige, in mehrere Zweige zerfallende Volk der Lygier.

Eine eigene, zusammengehörige Gruppe für sich bilden die Völker des gotisch-vandalischen Stammes im äußersten Osten des alten Germanien zwischen Oder und Weichsel und über diese hinaus bis an die Memel hin. Zu ihnen gehörten, außer den Goten und Vandalen (Wandalen), die Burgundionen, deren älteste Sitze im Gebiete der Netze und Warthe lagen, die Gepiden an der oberen Weichsel, die Rugier, Skiren, Turkilinger, Heruler, Lemovier u. a. Eine letzte Gruppe bilden endlich die nordischen Germanen oder Skandinavier, zu denen die Sulonen (Schweden) gehören, die Tacitus fälschlich den Sueben zuzählt. Sehen wir von den Skandinaviern ab, so breiteten sich also die Germanen von der Donau bis zur Ost- und Nordsee, vom Rhein bis zur Weichsel und den Karpathen aus. Cäsar kannte etwa 20 germanische Völker, Strabon und Plinius etwa 30, Tacitus über 60 und Ptolemäos über 100.

Wesentliche Veränderungen in der geographischen Verteilung der Stämme der Germanen treten erst seit dem Ausgang des 2. und dem Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. ein, zur Zeit, da auch die alten Völkerschaftsbezeichnungen allmählich verschwinden und neue Namen, neben dem der Goten die der Alemannen, Franken, Sachsen, dann auch der Bayern (Bajovarii, Baiwaren, Baiuwaren, Bajuwaren) u. a., auftauchen. Im 4. Jahrhundert bewog jene gewaltige Völkerbewegung (s. Völkerwanderung) einen großen Teil der Germanen zu Eroberungszügen, auf denen sie das Weströmische Reich zerstörten und auf dessen Boden mächtige Reiche, das westgotische in Gallien und Spanien, das vandalische in Afrika, das ostgotische und das langobardische in Italien, das burgundische im Rhonegebiet, das angelsächsische in Britannien und das fränkische im nordöstlichen Gallien, begründeten. Hierdurch wurden die Grenzen Germaniens gänzlich verschoben, und der Osten rechts von der Elbe und Saale, Böhmen, Österreich, das ganze Ostalpengebiet ward an die nachdrängenden Slawen verloren; die Reiche in Italien, Afrika und Spanien gingen zugrunde, und ihre germanischen Einwohner wurden romanisiert. Gleiches Schicksal hatten die Burgunder und der westliche Teil des Frankenreichs. Germanisch blieben also bloß Skandinavien, England und Deutschland, d. h. das Gebiet zwischen Alpen und Nordsee von der Mosel, Maas und Schelde im Westen bis zur slawischen Grenze im Osten, dessen Bewohner, unter Karl dem Großen sämtlich mit dem Frankenreich vereinigt, später ein eigenes, das ostfränkische Reich bildeten und im 10. Jahrhundert den Namen »Deutsche« empfingen (Weiteres s. Deutschland, S. 800–801).

Kultur und staatliche Einrichtungen der Germanen

Über Lebensweise, Sitten und Gebräuche sowie über staatliche Einrichtungen der Germanen verdanken wir ausführliche Nachrichten der »Germania« des Tacitus (98 n. Chr. geschrieben). Große und kräftige Gestalt, weiße Haut, blondes Haar, glänzende blaue Augen werden als allen Germanen eigentümlich bezeichnet. Schon in früher Kindheit ward der Körper an Arbeit und Entbehrung gewöhnt. War der Jüngling herangewachsen, so bekleidete ihn ein angesehener Mann oder der eigene Vater in der Versammlung des Volkes mit den Waffen; damit trat er in die Gemeinschaft des Volkes ein. In Jagd und Krieg ging das Leben des Mannes auf; die Geschäfte des Hauses und Feldes überließ man den Frauen, Knechten, Greisen und denen, die zur Führung der Waffen unfähig waren. Im Hause waltete die Frau als »Herrin«; streng wurde die Heiligkeit der Ehe gewahrt, Vielweiberei war unbekannt, unkeuscher Wandel streng verpönt; als Wahrsagerinnen taten Frauen den Willen der Götter kund und übten so auf das Geschick ganzer Völker Einfluss aus. Ackerbau ward überall getrieben, und der Pflug war längst bekannt. Teils auf Einzelhöfen lebte der freie Mann, teils hatte man sich in Dörfern angesiedelt, doch so, dass freier Hof- und Gartenraum jedes Haus umgab; Städte gab es wenig, auch feste Plätze werden selten erwähnt. Gewerbe trieben die Germanen nur, soweit es erforderlich war, um ihre einfachen Bedürfnisse zu befriedigen: ihre Gewänder aus Tierhäuten zu bereiten oder wollene und leinene Stoffe zu weben, ihre Waffen zu schnitzen, zu schmieden und mit Gold und Silber auszuschmücken.

Die Schifffahrt sowohl auf den Flüssen als auf dem offenen Meer war nicht unbekannt. Handel trieben besonders die an den Grenzen des römischen Reiches wohnenden Völker, indem sie von da Schmuck und Kleider, auch Wein, der seit den Zeiten des Kaisers Probus am Rhein gebaut wurde, einführten; nur diese Völker kannten das Geld und seinen Gebrauch. Die anderen Germanen trieben bloß Tauschhandel mit Fellen, Federn, Honig, Bernstein, Schinken, Vieh und Sklaven. Tadelte der Römer die Härte und Grausamkeit der Germanen, ihre Roheit und ihren Mangel an feinerer Gesittung, so musste er ihre Gastfreiheit und Ehrlichkeit, ihre Offenheit und ihre Freiheitsliebe, ihre Keuschheit und ihr Rechtsbewusstsein, vor allem aber ihre Treue rühmen. Das nächste Band, das die Genossen des Volkes umschlang, war das der Familie oder Sippe: den Mitgliedern einer Familie oblag die Pflicht gegenseitigen Schutzes und der (durch das von der Familie des Totschlägers zu zahlende »Wergeld« ablösbaren) Rache für einen erschlagenen Blutsverwandten. Auch vor Gericht hatten die Geschlechtsgenossen die Pflicht, einander beizustehen; aus dieser ist die altgermanische Einrichtung der Eideshelfer erwachsen.

Eine andere Verbindung als die Familie begründete die Dorf- und Markverfassung. Nicht alles Land nämlich, das bei der ersten Ansiedelung der Germanen von denen, die sich zu einem Dorf vereinigten, gemeinsam in Besitz genommen worden, war unter die Einzelnen verteilt; vieles blieb brach liegen und diente als Wald oder Weide allen zur Nutznießung nach bestimmten Regeln; dies wird als »gemeine Mark« oder »Allmende« bezeichnet. Um über die Nutznießung zu verhandeln und zu bestimmen, traten die Dorfgenossen an bestimmten Plätzen, meist unter einem alten Baum, häufig einer Linde, zusammen; ein gewählter Dorfvorsteher leitete die Verhandlungen. Staatliche Funktionen kamen nur dem Verband der Völkerschaft oder des Stammes und seinen Gliederungen, den Hundertschaften, zu. Die Staatsgewalt stand der Gesamtheit der freien Männer zu, die sich bewaffnet (Heer und Volk waren identisch) zur Volksversammlung einfanden. Diese war die Trägerin der Souveränität, auch wenn, wie bei den Ostgermanen, ein erblicher König aus einem besonderen edlen Geschlecht an der Spitze des Stammes stand; die höchsten Rechte, wie die, über Krieg oder Frieden, über Leib und Leben der Volksgenossen zu entscheiden, die Beamten der Abteilungen des Volkes zu ernennen, standen der Volksversammlung zu. Diese fand zu bestimmten Zeiten bei Neu- oder Vollmond oder außerordentlich bei besonderen Veranlassungen statt; festliche Schmausereien gingen den Beratungen voran, die unter freiem Himmel (in heiligen Hainen oder an anderen der Gottheit geweihten Stätten) abgehalten wurden. Der König oder, wo es keinen solchen gab, einer der Fürsten leitete die Verhandlungen; nur Männer, die durch Adel, Alter, Kriegsruhm oder Beredsamkeit ausgezeichnet waren, pflegten das Wort zu ergreifen: die Zustimmung zu den gemachten Vorschlägen gab die Versammlung mit beifälligem Zuruf und lautem Zusammenschlagen der Waffen, die Ablehnung mit unwilligem Murren oder Geschrei zu erkennen. Für die Zeit des Krieges wurde aus der Zahl der Fürsten ein Anführer (Herzog) gewählt.

Außer den Versammlungen des ganzen Volkes gab es solche der einzelnen Hundertschaften, in die der Stamm zerfiel; hier ward namentlich das Recht gesprochen. An der Spitze der Hundertschaften in Krieg und Frieden, in Heer und Gericht standen Fürsten (principes), die von dem gesamten Stamm aus den tüchtigsten freien Männern gewählt wurden. Ihr und der Könige Vorrecht war es, ein Gefolge zu halten, d. h. eine Anzahl tapferer junger Männer um sich zu versammeln, die, durch das feste Band der Treue an ihren Gefolgsherrn gekettet, mit ihm Ruhm, Beute und Gefahr teilten. Der Eintritt in ein solches Gefolge minderte Freiheit und Ehre nicht. Allerdings gab es bei den meisten Stämmen einen, wenn auch nicht sehr zahlreichen Adel; seine Mitglieder, die »Adalinge« oder »Ethelinge«, galten als besonders angesehen und einflussreich, und man legte Wert auf edle Geburt; aber politische Vorrechte verlieh der Adel nicht. Unter den Freien standen die Hörigen (Liten), vielleicht Angehörige ganzer Völkerschaften, die im Krieg unterworfen worden waren; sie mussten für ihr Land einem Herrn dienen oder zinsen und hatten keine politischen Rechte, waren aber persönlich frei. Die Knechte, meist Kriegsgefangene, galten als Sache und konnten gekauft und verkauft werden; doch wurden sie nicht grausam behandelt und lebten in der Regel auf einem ihnen angewiesenen Stück Land, für das sie Getreide oder Vieh als Abgabe entrichteten. Der Gliederung des Volkes im Frieden entsprach die Ordnung in der Schlacht: das Gefolge umgab seinen Führer, familien- und stammweise vereinigt focht das übrige Volk. Die Schlachtordnung war meist keilförmig, Reiter und Fußgänger vermischt. Der Angriff, der mit einem wilden Gesang (baritus, nicht: barditus) begann, war stürmisch, aber nicht immer ausdauernd. Den Schild auf feiger Flucht wegzuwerfen, galt als die ärgste Schmach. Es fehlte den Germanen nicht an geschickter und kundiger Führung; anfangs den Römern an Kriegskunst nicht gewachsen, lernten sie bald von den Siegern. Hauptwaffen waren der Speer, das kurze Schwert (besonders bei den Völkern des Nordens: der sahs der Sachsen) und der buntbemalte Schild; das Fußvolk führte auch Bogen und Pfeile. Nur wenige Bevorzugte hatten Harnische und Helme. Einzelne Völkerschaften, wie die Tenkterer und Chauken, waren ihrer Reiterei halber berühmt; die Hauptstärke der germanischen Heere bestand jedoch im Fußvolk.

Die Sprache (s. Germanische Sprachen) war reich und bildungsfähig; auch gab es bereits Schriftzeichen, Runen (s. d.). Gesang und Poesie waren den Germanen nicht fremd, und in Liedern, die im Volke lebten, bewahrte man die Erinnerung an Helden und ruhmvolle Taten. Ihre Religion war der der übrigen arischen Völker ähnlich (vgl. Deutsche Mythologie); einen eigenen Priesterstand hatten die Germanen nicht, wohl aber Priester, die den Gottesfrieden bei den Versammlungen oder im Heer zu wahren hatten und aus dem Ausfall der Opfer (in der ältesten Zeit auch Menschenopfer), aus dem Flug der Vögel, aus dem Wiehern der heiligen Rosse, aus Losen, die geworfen wurden, den Willen der Götter und die Zukunft verkündeten. Tempel und Bilder der Götter gab es nicht; in heiligen Hainen und Wäldern wurden ihnen Altäre errichtet und die Opfer dargebracht.

Bibliographie

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  • Dahn: Die Könige der Germanen (Münch. u. Würzb. 1861–1903, Bd. 1–9)
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Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909

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